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Die Kirche von Morgen - Andrea Laska

 

Es ist März. Köln ist fest in der Hand eines Virus und #stayathome ist das Schlagwort der Stunde.

 

Dem Wetter macht es nichts aus. Wie zum Ausgleich strahlt die Sonne von einem glasklaren blauen Himmel. Im Schatten ist es eisig. Auch das scheint gewollt, denn um draußen zu sitzen, ist es zu kalt und die Menschen drängen nicht in Scharen in Parks und auf Wiesen. Alles zum Ansehen, nichts zum Besitzen.

 

In meinem Balkonkasten blüht neben lila Hornveilchen und dunkelroten Tausendschön ein pinkes Alpenveilchen. Vor einigen Wochen war es der erste Farbklecks in der Blumenecke des Supermarkts, nachdem es monatelang dunkel gewesen war, morgens dunkel, wenn man aus dem Haus ging, und abends, wenn man nach Hause kam, schon wieder. Oder immer noch?

 

Ich nahm das pinke Alpenveilchen mit.

 

Es scheint sich wohl zu fühlen. Es blüht üppig und bildet unermüdlich neue Knospen. Eine anspruchslose Pflanze ganz nach meinem Geschmack.

 

Während ich das Wort ‚Geschmack‘ schreibe, muss ich schmunzeln, denn ein Alpenveilchen ist keine Blume nach meinem Geschmack. Im Gegenteil. Bisher war es für mich immer eine Friedhofsblume. Ich verband damit automatisch die Erinnerung an eine einsam auf dem Fensterbrett meiner Oma stehende Topfpflanze in ewig gleicher Form und Farbe. Wie die Oma war sie trostlos, zeigte kein Zeichen der Lebendigkeit, keine Freude, hatte kein Lied auf den Lippen, geschweige denn Rhythmus in den Beinen, war lediglich langweiliger braungrauer Wollstoff über dicken fleischfarbenen Nylonstrümpfen, die in bequemen Schuhen ohne jeden Absatz verschwanden.

 

So wie das Alpenveilchen in die Dauerbepflanzung der Grabschale gehörte, gehörte vielleicht auch die Oma für mich als Kind zum Inbegriff der bald Sterbenden, obwohl sie weit davon entfernt war.

Bei den wenigen Besuchen, die mein Bruder und ich unserer Oma abstatteten, gab es zur Feier des Tages Kalbsleberwurst, die sie mit uns zusammen beim Stüssgen um die Ecke kaufte. Damit verschönte sie ihren grauen Alltag und versaute uns unseren.

 

In ihrem Schlafzimmer hing der Gekreuzigte an der Wand und darunter ein Weihwasserbecken. Das beeindruckte uns so sehr, dass wir darum baten, in das Zimmer zu dürfen, was uns wie eine Gnade gewährt wurde. Mit dem Weihwasser durften wir unsere Finger benetzen und uns bekreuzigen. Sie war sicher der Ansicht, dass uns das gut tat, denn wir waren bis dahin nicht getauft, weil meine Mutter wollte, dass wir evangelisch wurden, mein Vater sich aber an das Versprechen, das er meiner Mutter bei der katholischen Hochzeitsfeier gegeben hatte, nicht erinnern wollte. Wir lebten in Sünde.

 

Die Wohnung meiner Oma war groß, ungeheizt und leblos. Die einzelnen Zimmer waren abgeschlossen und hüteten eine längst vergangene Zeit. Nur die Küche wurde geheizt. Deutlich ist mir in Erinnerung, dass auf dem Fensterbrett im Erker des Wohnzimmers eine schwarze Statue stand, ein nackter Mann mit Pfeil und Bogen.

Erst als ich Jahre später diese Figur im Keller meiner Eltern fand, begriff ich, dass es sich um Amor handelte. Offensichtlich hatte er genau einen Pfeil abgeschossen, und der hatte meine Eltern getroffen.

Dieses Alpenveilchen hat mich wohl ausgesucht, um mich an die Trostlosigkeit und Kälte dieser Wohnung zu erinnern, aber auch um mir zu zeigen, dass ich nun selbst eine alte Frau bin und mich mit leeren Zimmern und altbackenen Topfpflanzen anfreunden muss.

 

Während dieser Corona-Stay-at-home-Zeit habe ich viele Gelegenheiten, auf das blühende Alpenveilchen zu schauen und stelle fest, es passt genau so wenig in die Wohnung meiner Oma wie der Amor. Je genauer ich hinschaue, desto eindringlicher stelle ich fest, dass die Blüten sich leidenschaftlich der Sonne entgegenstrecken wie – entschuldigt, wenn ich das so sage – erregte Schamlippen dem Liebhaber. Sie strömen Lust und Kraft aus, trotzen voller Stolz ihrem Image. In Begleitung der tiefroten Glaskugel und den bunten Frühlingsblühern sind sie ein Hingucker. Es ist, als hätte ein Mauerblümchen seine Bestimmung gefunden. Im Zusammenspiel des Ganzen zeigt sich die wahre Schönheit der Einzelteile.

 

Dieser Blumenkasten ist meine Kirche von Morgen. Gott kann es in einem kalten ungeheizten Raum geben, er mag dort wie eine einsame Topfpflanze etwas Freude spenden, aber seine Strahlkraft erhält er im Miteinander.

Die Kirche von Morgen ist ein Ort, an dem ich, so wie ich bin, strahlen darf, andere mich beim Strahlen unterstützen und auch ich zur Schönheit der anderen beitrage. Gemeinsam holen wir das Beste aus uns heraus. 

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Kommentare: 7
  • #1

    Veronika Valder (Dienstag, 07 April 2020 19:37)

    Liebe Andrea,
    der Text - diese Geschichte hat mich echt geflasht. Es hat mich um Jahre zurück geworfen und ich fand mich in der Wohnung meiner Tante wieder. Wie liebevoll die letzten paar Zeilen sind, nach grau und trostlos!
    Dankeschön an Renate für diese Plattform und Dankeschön an Andrea an deiner Geschichte teilhaben zu dürfen.
    Ich bin wieder motiviert.

    Herzlichst
    Vroni

  • #2

    Peter Otten (Mittwoch, 08 April 2020 16:36)

    Liebe Andrea, ein echter Andrea-Text! Sehr vorzüglich beobachtet, mitreißend geschrieben, tolles Bild, an dem ich meine Alpenveilchenerinnerungen sofort anknüpfen konnte... Vielleicht haben wir alle solche Pomas gehabt... Danke dafür!

  • #3

    Monika (Donnerstag, 09 April 2020 13:54)

    Liebe Andrea, habe noch einmal Deinen Text gelesen und mich wieder über die ehrliche Tiefe gefreut.
    Bald ist diese extreme Zeit vorbei und dann schreiben wir wieder gemeinsam.
    Ich freue mich sehr darauf!

  • #4

    Carmen (Sonntag, 12 April 2020 20:00)

    Danke Andrea für Deinen schönen Text.
    Auch ohne Deinen Namen zu lesen hätte ich gewusst dass das Geschriebene aus Deiner Feder stammt.
    Bleib gesund und hoffentlich bis bald in Koeln.

  • #5

    Ann Kristin (Montag, 13 April 2020 12:05)

    hallo und einen schönen Ostermontag, nachdem Renate gerade einen link versendete, lese ich nun die Texte und deinen natürlich zuerst..
    er ist klasse, anregend, kritisch, ..da es heute kalt ist, viel zu kalt..und ich wochenlang eher zu depressiv..ermuntert mich das jetzt....
    alles Liebe an dich ..ich grabe mal mein Inneres um, dann schreibt es wieder..
    deine Ann, die sich bald freut, dich zu sehen..
    ein Drückerchen..also eine Umarmung..und einen schönen Tag an dich..

  • #6

    Christiane (Montag, 13 April 2020 16:15)

    Liebe Andrea, Dein Text hat mich sehr angesprochen... Wie Du das Alpenveilchen zum Leben erweckst, es aus der verstaubten Ecke, der Grabschale holst und ihm einen sinnlichen Charakter verleihst, gefällt mir sehr gut. Auch sonst, wie der Heiland auf Amor, Religion auf Erotik trifft... Und ich hatte auch solch eine Oma mit solch einer Wohnung und mit Heiland, über die ich auch schon geschrieben habe... :) Viel vertrautes, aber auch neue, überraschende Gedanken, vor allem in dem Zusammenhang:) Und dann noch den Bogen zum Thema Corona zu spannen..., sehr gelungen...

  • #7

    Katrin (Samstag, 18 April 2020 21:04)

    Hallo Andrea,

    während ich Deinen wundervollen Text lese, beginnt mein Gehirn schon Purzelbäume zu schlagen. Es möchte sich auf machen, eigene Gedanken zu spinnen. Doch es muss lesen - und freut sich über den nächsten Streifzug, durch die Wohnung meiner Oma. Es wandert über die Taufe von meiner Schwester und mir zu Dosen mit Leberwurst - aber es musste die mit den drei Ausbuchtungen im Deckel sein...
    Bisher habe ich Orchideen immer für erotische Blüten gehalten. Die letzte ist noch nicht lange tot - Ungeziefer. Ich habe vor, mir ein Alpenveilchen zu kaufen. Vielleicht ein pinkes. Für ein bisschen mehr Erotik in dieser Zeit ;-)

    Ich wünsche Dir einen schönen Sonntag. Bleib gesund!

    Katrin