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Bericht aus einem anderen Land - Christiane Schraaf

Überkam mich früher ein nostalgisches Gefühl beim Betrachten alter Fotos, aus meiner Jugend oder aus der Zeit meiner Großeltern, befällt mich dieses Gefühl jetzt schon, wenn ich Fotos auf meinem Handy ansehe, die erst wenige Tage alt sind. Anfang März waren wir noch sorglos essen, saßen an rot-weiß karierten Tischdecken, haben Spaghetti gegessen und roten oder weißen Wein dazu getrunken. Haben mit unserem Lieblingskellnerinnen, Giovanna und Sofia, gescherzt und geplaudert. Jetzt ist das Lokal geschlossen, ganz Deutschland im Lockdown.

 

Das letzte Abendessen außer Haus, am 12. März. Ich gehöre zu den peinlichen Menschen, die fast immer ihr Essen fotografieren: Die Dorade auf dem Teller, Gemüse, eine dicke Scheibe Zitrone. Das Glas Weißwein daneben… Wussten wir schon, dass dies der vorerst letzte Abend, das letzte Abendessen in einem Restaurant wäre, für lange Zeit? Man ahnte schon so etwas; das Lokal war deutlich leerer, nur wenige Tische noch besetzt. Die Menschen waren schon aufgeschreckt von dem Virus, alles fühlte sich schon melancholisch und hypernervös an. Giovanni gab uns noch einen Absacker aus, und dann verabschiedeten wir uns Tag für Tag mehr aus unserem normalen Leben.

 

Von heute auf morgen befinden wir uns in einem anderen Daseinszustand. Auf einmal kann man nicht mehr bis nächste Woche, ja nicht mal bis zum nächsten Tag planen. Wir alle sind fremden Einflüssen ausgeliefert, nur in den eigenen vier Wänden fühlt man noch sowas wie Schutz. Die Schlagzeilen werden immer fetter und schwärzer, Europa macht seine Grenzen dicht. Jedes Land schottet sich ab und jeden Tag stirbt ein bisschen mehr von unserem alten Leben.

 

Die Frühlingskulisse gibt dem ganzen einen tröstenden, aber irgendwie auch grotesken und manchmal verstörenden Hintergrund. Vögel zwitschern, die Sonne wärmt und trotzdem ist Krieg. Die ganze Welt hat einen gemeinsamen Gegner und er ist unsichtbar. Diese kleinen Viren - Tausend mal kleiner als Würmer, mächtiger als Staatsoberhäupter, Kontinente, Medizin-Männer. Wer hat sich diesen Scheiß-Science-Fiction ausgedacht? Katastrophen-Film, frei unter 18.

 

Zu vielen Menschen sind die Kontakte immer noch da, werden vielleicht sogar enger. Andere haben wir völlig aus den Augen verloren, sie scheinen offline und von der Straße in ihre Verstecke geflüchtet.

 

Die Isolation und Einsamkeit, die das ganze mit sich bringt, gehört irgendwie dazu. Ich liebe auch das Alleinsein, die Stille. Wenn das Leben sich verlangsamt, entdeckt man andere Dinge. Ich betrachte den Marienkäfer auf dem Lavendelblatt, die Nuss, die ein Eichhörnchen vergessen hat, den Vogel beim Nestbau.

 

All diese wunderbaren Bistro-Stühle, die Kaffeehaustische auf den Straßen von Paris... Die Plätze und Espressobars in Rom, menschenleer, als hätte es die Menschen schon dahingerafft und nur die Orte wären übrig geblieben. In Spanien fliegen kleine Drohnen, die die Ausgangssperre überwachen – auf einmal leben wir in einem totalitären System, jeden Tag wird uns ein bisschen mehr Freiheit geraubt.

 

Überall liegt gespenstische Stille über dem Land, beim Einkaufen, im Park - nur ein paar Kinder beim Fußballspielen mit den Eltern veranstalten noch normale Geräuschkulisse. Kaum noch Gespräche unter den Menschen - obwohl das doch in Köln immer üblich war, auch unter Fremden. Keiner kichert mehr, quatscht laut oder telefoniert.

 

Und doch hektische unruhige Betriebsamkeit, nervöse Unsicherheit... Zahnarztbesuche werden aufgeschoben, Einkäufe unter Panik erledigt und meist kauft man zwei oder drei Packungen anstatt einer. Man weiß ja nicht, ob es morgen noch was gibt oder ob man selbst womöglich unter Quarantäne steht, weil in irgendeiner Situation XY das Virus auf einen übergesprungen sein könnte. Unsere Eltern haben Kriege erlebt oder Nachkriege; der Schrecken saß uns als Kriegsenkel immer irgendwo dunkel in den Genen. Jetzt fangen auch wir wieder das Hamstern an, sind beglückt, wenn wir irgendwo doch noch mal Desinfektionsspray bekommen. Haben mehr Nudeln, als man in den nächsten zwei Wochen essen kann, und trotzdem noch das Gefühl, weiter einkaufen zu müssen.

 

Alles was gestern noch wichtig war, erscheint auf einmal völlig belanglos, oder umgekehrt, in anderem Licht: kleine Dinge bedeuten im Nachhinein Glück, ohne dass man sich dessen bewusst war. Vieles kann man jetzt nicht haben oder machen, was einem wichtig ist. Vieles ist aber auch nicht mehr wichtig und man will es auch gar nicht wiederhaben. Auf vieles möchte man gerne auch in Zukunft verzichten, und mehr Alleinsein kann sehr beglückend sein.

 

Trotz des Schreckens ist man irgendwie auch schon gewöhnt an den neuen irrealen Alltag - wie schnell der Mensch sich doch umstellt. Das beklommene Gefühl in der Magengegend ist ständiger Begleiter, vor allem wenn man raus muss, in die bedrohliche Außenwelt. Die Bedrohung ist unsichtbar und trotzdem greifbar, nähert sich ein Mensch unter einem Abstand von 1,50 m, fühlt man sich bedroht, wendet den Kopf zur Seite, um nur ja keinen Atem-Kontakt herzustellen.

 

Der Gang zur Arbeit wird zum Spießrutenlauf für den, der nicht im Home-Office sein kann. Immer mehr Menschen tragen Mundschutz und sehen aus wie die ensetzten Gestalten auf Munchs Gemälde, "Der Schrei". Groteske, unnatürliche Bandagen, wie bei geschundenen Kriegsopfern, wo sonst Mund und Nase sind.

 

Nachts flüchte ich mich in babyhafte Träume, kann verdrängen, was überall los ist, und schlafe tief und erholsam. Selbst meine chronischen Schmerzen in Oberarm und Handgelenk sind verschwunden, als habe der Adrenalinstoß sie kurzerhand beseitigt. Beim Erwachen hoffe ich kurz, alles wäre nur ein Albtraum gewesen, eine spukhafte Einbildung, wie das früher immer so war. Wird unser Leben jemals so wie zuvor sein? Werden wir auch die nächsten Jahre keinen Menschen mehr die Hand reichen, sich nicht zu Begrüßung umarmen? Bei jedem Husten erschrecken? Für vier Wochen im voraus einkaufen?

 

Leben wir jetzt auf einem anderen Stern, kehren wir jemals wieder in unser altes Land zurück?

 

Irgendwo, in weiter, nebeliger Ferne winkt der Gedanke an zukünftige Urlaube. Wird man wieder in belebten Restaurant sitzen können und ungetrübt das Essen genießen können? Wer kann sich all das noch erlauben, wenn so viele ihre Jobs verloren haben werden? Werden die Menschen wieder die Straßen und Plätzen zurück erobern? Man kann sich nicht vorstellen, jemals wieder dicht gedrängt auf einer Bierbank zu sitzen oder an Karneval zu schunkeln. In der Rushhour Bahn zu fahren, oder eine Massenveranstaltung zu besuchen.

 

Sonntag morgen. Tatsächlich unterscheidet sich dieser Morgen doch noch von den anderen. Der Wind heult um das Haus und macht Geräusche wie ein tosendes Nebelhorn. Eine Kirchenglocke läutet. Der Frühling macht Pause, der Himmel mischt viel Schwarz unter ein kaltes, dunkles Blau, vor dem sich das explodierende Grün und Gelb der Baumknospen deutlich abhebt. Im Hof blüht ein weißer Kirschbaum. Ein einzelner Lavendelhalm trägt Lila. Von den Nachbarbalkonen leuchten bunte Blumen in den Morgen. Der Himmel gehört den Vögeln alleine, ohne dass sie sich ihn mit Flugzeugen teilen müssen.

 

Ich stehe im Bademantel auf dem Balkon, meinem Sommerzimmer, trinke Kaffee und Sonne, so viel ich kriegen kann. Auch dieses Jahr ist es wieder auf einmal so unfassbar Frühling geworden wie jedes Jahr, diesmal wird er von uns Menschen kaum gestört. Greifvögel schweben in der Luft, versuchen, gegen den starken Wind anzusteuern. Nebenan landet wieder eine Taube auf der Balkonbrüstung, wo keine Blumenkästen stehen. Der Wind rauscht in der Ferne wie ein Güterzug.

 

Ich wünsche mir, etwas davon würde bleiben; der ruhige Himmel zum Beispiel. Man hört sogar das Windspiel auf dem Balkon des entfernten Hauses. Die Farben explodieren weiter, je dunkler der Himmel wird. Irgendwo riecht es nach verbrannten Toast. Ich versuche, die Zeitspanne zu vergrößern, in der ich die Natur betrachte, und die für´s Nachrichten lesen zu verkleinern.

 

Fünf Krähen keifen und verfolgen sich gegenseitig im Tiefflug durch den Hof. Wie die Zukunft aussehen wird, weiß keiner, aber irgendwann werden wir wieder am Meer sein. Mit viel Glück schon Anfang September, auf Norderney.

 

Gestern Abend habe ich zum ersten Mal seit zwei Wochen entspannen können. Mit dem Kopfhörer habe ich meine Playlist "Höhenflug" gehört, hell und glockenklare Musik, die sich in den oberen Sphären bewegt. Gesungen vom Countertenor aus dem Hillard Ensemble, dessen engelsähnliche Stimme sich mit den Saxophonklängen unter der Gewölbedecke des Klosters mischt, wo die Musik aufgenommen wurde. Dann Stabat Mater, Sopran- und Altstimmen, die schon meine Oma gemocht hat, der ich die CD damals geschenkt habe. David Bowie, Live on Mars, und Madonna.

 

Vorher habe ich ein Interview mit dem Guru Sadhguru auf YouTube gehört, den Link hatte mir mein Tanzlehrer Phuong neulich per WhatsApp geschickt. "Lockere den Griff", sagt er lachend, mit der Weisheit seiner weißen Haare und des langen Bartes. "Du darfst das Leben nicht so ernst nehmen. Wir alle werden sowieso sterben. Lockere den Griff. Bewege dich über die Wiese und ahme den Grashüpfer nach." Danach war ich seltsam heiter und konnte Musik hören.

 

Trotz des Schreckens da draußen läuten die Kirchenglocken weiter, bewegen sich die Bäume im Wind, atmen wir. Unsere Körper sind lebendig.

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Kommentare: 5
  • #1

    ann Kristin (Montag, 13 April 2020 12:24)

    lieber Christian,
    ja, den Grashüpfer nachahmen, das sollten wir lernen..finde ich sehr schön, dieses Bild..und den Griff lockern,...
    was wird man je verstehen..na, wir behalten die Hoffnung..
    einen schönen Ostermontag..aus Lev.

  • #2

    Monika (Montag, 13 April 2020 17:19)

    Liebe Christiane,

    wie gut kann ich Deine Beschreibung dieser Zeit nachempfinden. Und ich merke, was mir dann doch inzwischen fehlt. Essen, trinken, mit lieben Menschen an einem Tisch...und ich sehe Dich im Bademantel auf dem Balkon, Kaffee und Sonne trinken!

  • #3

    Herbert (Dienstag, 14 April 2020 15:01)

    Liebe Christiane,
    alle geliebten Orte sind verlassen und verändert. Einzig die Natur folgt ihrem Rhytmus, Corona hält das
    Blühen der Bäume nicht auf, daran dürfen wir uns erfreuen.
    " Leben wir jetzt auf einem anderen Stern, kehren wir jemals wieder in unser altes Land zurück ? "
    Die Frage gefällt mir sehr.
    Ich meine, wir leben noch auf dem gleichen Stern, werden aber in ein verändertes Land zurück kommen .

  • #4

    Carmen (Freitag, 17 April 2020 10:55)

    Liebe Christiane,
    Danke für Deinen Text.
    Ich denke dass unser Stern und unser Land sowie wir selbst, mit oder ohne Corona, sich ständig verändern. Wir möchten das eigentlich nicht. Unsere begrenzte Lebenserwartung ermöglicht es auch nicht darauf zu achten.
    Corona hat nun die Möglichkeit mit dem Finger gnadenlos auf diese Unberechenbarkeit zu zeigen.

  • #5

    Katrin (Samstag, 18 April 2020 21:37)

    Liebe Christiane,

    Dein Text ist wahrlich eine kurze Zeitreise - in eine Vergangenheit , die noch nicht lange her ist, es uns aber vorkommt, wie eine Ewigkeit. Die Zukunft, von der niemand weiß, wann sie beginnen wird. In der Gegenwart, wo wir dem Rhythmus eines Virus folgen müssen. Im Gegensatz dazu zeigt sich die Natur von allem unbeeindruckt. Sie funktioniert in ihrem eigenen Rhythmus. Jahr für Jahr. Sie ist anderen Problemen ausgesetzt - für die meist wir verantwortlich sind. Auch der Mensch kann sich anpassen. Das gehört zu unseren wunderbaren Eigenschaften. Doch es geht nicht von jetzt auf gleich - aber Zeit, die haben wir ja jetzt.

    Dein Text macht Mut, denn auch Du hast Wege zur Entspannung gefunden. Vielen Dank.

    Ich wünsche Dir einen schönen - entspannten - Sonntag. Bleib gesund!

    Katrin