· 

Akzeptanz finden - Hannah Sehweg

Selma hörte wie jeden Tag auf dem Balkon in den zartblauen Morgen hinein und spürte in sich hinein. Sie fühlte sich nicht wie ausgewechselt. Ihre Augen wanderten auf ihre Balkonkästen. Die marokkanische Minze erholte sich vom nächtlichen Frost. Die Hyazinthen lockten die ersten Mauerbienen an. Wie ging es bloß Tayo? Keine Kinderstimmen von der Außenanlage des Kindergartens oder vom Spielplatz drangen zu ihr hinüber. Sie lauschte dem Lied der Blaumeise, die ihren trockenen Rosmarinzweig zum Bauen ihres Nestes aus der Balkonpflanze zupfte.

Nach dem ersten Durchforsten der E-Mails, 2 umständlichen Telefonkonferenzen entschied sie sich für eine Pause. Sie zog ihre türkise Jogginghose an, schminkte sich leicht und nahm ihre Runde zum Rhein auf. Tiefblau strahlte der Himmel.

 

Sie atmete tief durch. Von hinten kündigten sich mit einer Klingel überholende Radfahrer an. Der japanische Kirschblütenbaum leuchtete flamingozart.

 

Auf dem Rückweg besorgte sie sich die wichtigsten frischen Sachen aus dem Supermarkt. Sie wartete auf freie Gänge, beobachtete mit Rücksicht ihre Mitkäufer. Sie wurde nicht genötigt, einen Einkausfswagen für den grünen Salat, 3 Zitronen, frischen Ingwer und der einen Tüte Milch zu nehmen. ‚Komm mir bloß nicht zu Nahe‘ schienen die misstrauischen Blicke ihrer geliebten Nachbarschaft zu übermitteln. Gelb-schwarze 1,50 Meter Abstandsstreifen vor der Kasse wie auch die Plexiglasscheiben vor der Kassiererin, die gerade eine 55- Stunden Woche schob, markierten die neue Situation.

Verschwitzt wich Selma an der Haustür zurück - bis ihre grauhaarige Nachbarin nach außen getreten war. Sie begrüßten sich höflich mit 2m Abstand.

Sagen sie Bescheid, wenn ich irgendetwas für sie tun kann. Ich könnte für Sie einkaufen.

Danke, dass ist sehr nett. Mein Mann und ich zählen zu den Risikopatienten. Wir lassen es Sie wissen. Noch geht mein Mann einkaufen. Bevor sie mit grapefruitschweren Home Office weitermachte –, rief sie Tayo an.

Tayo, was machst du gerade in Dakar?

Ich unterrichte gerade. Kann ich dich später zurückrufen?

Die Maßnahmen ändern sich gerade täglich.

It is a game, a game

Die Verbindung wurde unterbrochen.

Sie scrollte auf ihrem Handy nach Fotos mit ihrem Liebsten. Mit größter Aufmerksamkeit widmete sie sich wieder ihrer Arbeit.

Am Abend kam ein Anruf von Silke. Was gibt es Neues bei dir?

Ich schaue dem Balzspiel der Elstern zu. Senegal hat den Luftraum nach Europa für 30 Tage gesperrt. Ich will das alles nicht. Was treibst du gerade?

Ich skype mit dem ein oder anderen Kollegen und konzentriere mich im Home-Office auf meine Forschungstexte.

Kommst du vorbei?

Ich darf noch vorbeikommen?

Ja klar, Hände waschen und ab auf den Balkon.

Alles klar, dann bis morgen!

 

In der Nacht träumte sie von grau-grünen aufdringlichen Aliens, die aus ihren Bauch sprangen. Als sie aufwachte, waren ihre Haare zerzaust. Sie beruhigte sich mit dem Sonnengruß. Auf Balkonia hörte sie mit ruhigen Atemzügen den lustigen Meisen zu, fühlte die warme Außentemperatur, sah den Olivenbaum wachsen. Covid-19 fiel nicht vom Himmel.

Aus Dakar die Nachricht: Die Regeln sind ähnlich: Mundschutz im öffentlichen Raum, Ausgangssperre ab 20.00 Uhr, das Gesundheitssystem hat die Krise im Griff. Ebola-Medikamente scheinen zu helfen. Ich unterrichte digital und organisiere ein Coding-Bootcamp. Die Situation ändert sich schnell, vielleicht komme ich früher zurück. Wer weiß es schon. Lass dich nicht verunsichern. Es ist ein neues Spiel. Wie geht es dir? Dazu ein Foto mit einem Plakat: Bleib bei dir und bleib stark.

 

Sie schrieb zurück. Deutschland liegt beim Digitalen Lernen zurück. Ich habe keinen nahen Kontakt zu meinem Klientel. Die Home-Office -Umstellung ist mühselig. Keine Schulungen, keine Vereinheitlichung unter den KollegInnen, keine Vorgaben von der Leitungsebene. Wir dürfen wild ausprobieren. Per Live-Chat und E-Mail halte ich die Verbindung am Laufen. Die einseitige Berichterstattung stört mich. Die Politik arbeitet scheinbar sachlich. Einige Virologen werden nicht als Experten integriert. Ich habe kaum Außenkontakte. Das 21.00 Uhr- Applaudieren finde ich etwas trostlos. Ich bin bei kollektiven Handzeichen vorsichtig. Selbst ein Klatschritual verlangt Anpassung. Wir Individualisten leisten gerade Arbeit für ein sogenanntes Zusammen– ohne eine Perspektive auf eine Lockerung zu haben.

Tajo schrieb: Bleib entspannt. Versuche es als Spiel zu sehen. Angst darf niemals siegen. Ich vermisse dich. Take Care.

 

Diesmal funktionierte ihr digitales Büro nicht. Weder ihre Email-Adresse, noch Teams, Zooms oder Skype ließen sich öffnen. Selma meldete sich beim Arbeitgeber krank, sagte die Telefonkonferenzen per SMS ab und bemühte sich, ihr Verbindungswerkzeug zur Außenwelt zu reparieren. Frustriert schnappte sie sich nach zwei Stunden ihr Fahrrad. Sie fuhr über die leeren Feldwege Richtung Siebengebirge. Auf einer Bank rastete sie unter der Zierkirsche. Sie biss in einen Apfel und trank Gurkenwasser. Den Abend über berieselte sie sich mit Serien, die ihr nicht gefielen. Shit happens.

 

Sie schlief schlecht, rieb sich in der Nacht die Augen, hielt ihre Hand vor den Mund, poppelte in der juckenden Nase, kratzte sich im Gesicht, wälzte sich auf die Seite, ihre Hände an der rechten Backe, berührte ihre Lippen. In ihren Schlafbildern begegnete sie Adam und Eva. Am Anfang schuf Gott Viren und Bakterien. Adam sprach: Nimm nicht die Viren mit auf deine Hand. Eva biss in den Apfel hinein. Wasch dir doch mal die Hände! Hoffnungsideen liegen in der Zwischenwelt, die Gefahr kann real oder eingebildet sein. Gott wurde zum Mensch, der Teufel ist nicht immer ein Virus. Leben ist Vermehrung. Ein Virus ist Leben. Wir sind alle eins. Sigmund bekämpfte den Drachen. Verwirrt wachte sie auf. Der Tag, blaumild. Konzeptarbeit bestach als Hausaufgabe für das ungemütliche Home - Office.

 

Selma joggte im türkisen Dress ungeschminkt am Rhein entlang. Radelnde Gesichtsmasken kamen ihr entgegen. Anderen Fußgängern wich sie aus. Durch die Nase einatmen, durch den Mund langsam ausatmen. Selma fand ihren Rhythmus. Diesmal führte sie der Weg vom Rhein in das Naturschutzgebiet, entlang an den weißen Blütenblättern der Feuerkirsche, die sich buschartig am Fuße des Hügels ausbreiteten. Auf dem Rückweg wickelte sie für den Einkauf einen frischen selbstgebastelten Mundschutz aus, ein Halstuch – zusammengefaltet, mit Gummis um die Ohren fixiert. Paprika, Gurke, Frühlingszwiebeln, Couscous, Ziegenkäse kamen in den Einkaufskorb. Gepunkte, weiße, medizinisch-grüne, lustig angemalte Mundschutzgesichter blickten ihr beim Schlendern durch die Regale entgegen.

Mit Haushaltshandschuhen bereitete sie Zuhause den Salat zu und fuhr zu Silke. Ein Namaste aus sicherer Entfernung als Begrüßung, ein 30-Sekunden-Händewaschen im Bad, dann ging es auf den Balkon.

Silke fing an: Die Zahlen der Virologen reichen noch nicht. Es muss weiter getestet werden.

Die Fälle in Heinsberg weisen darauf hin, dass die Ansteckung beim Friseur nicht zu vermuten ist, dass Covid-19 durch Tröpfchen in engen Räumen bzw. in einem längeren Nah- Gespräch übertragen wird.

Das sind Fallbeispiele. Sollen Risikopatienten gefährdet werden?

Zur Zeit beruhen alle Maßnahmen auf der Grundlage von Hochrechnungszahlen fiktiver Daten. Ich finde, die Politik könnte differenzierte Maßnahmen einführen?

Und die Bilder aus Italien, Spanien, möchtest du dies?

Und den Selbstmord von Restaurantbesitzer, Künstler, Kulturschaffende, Veranstaltungstechniker, Messebauer, möchtest du dies?

 

Die Entschleunigung tut sehr gut. Werte wie Freundschaft, Langsamkeit, Entspannung, Achtsamkeit Nachbarschaft, Gesundheit, Natur, Hilfe werden sichtbar.

Der wirtschaftliche, demokratische oder auch psychosoziale Schaden muss klein gehalten werden – sonst sind die Maßnahmen nicht zu rechtfertigen.

Jetzt hörst du dich an wie der Ethikrat der Weisen.

Die Pandemie darf die Bildungsunterschiede nicht größer machen.

Es muss vor allem getestet werden. Je mehr Zahlen vorliegen, desto angepasster und flexibler können die Maßnahmen an wirklichen Fakten angepasst werden. Die wissenschaftliche Politikberatung läuft auf Hochtouren.

 

Zuhause angekommen lag keine Nachricht von Tayo vor, keine Nestwärme breitete sich aus.

Unruhig wälzte Selma sich in den Schlaf.

Aids, Amöbenruhr, Bandwurm, Borreliose, Ebola, Gelbfieber, Gift, Herpes, Krätze, Läuse, Malaria, Pest, Pocken, Tollwut, Salmonellen, Sars, spanische Grippe, Vogelgrippe, Zecken, Zoonosen murmelte sie undeutlich in ihr Kissen.

Sie startete den Tag im Wartesaal Badezimmer, zog ihre Sportkleidung an, bevor sie die Reise nach dem Land Balkonien antrat. Der Tag begrüßte sie mit einem kühlen Südostwind.

 

Zwei Stunden Zeitunterschied zu Senegal. Für ein Telefonat musste sie noch etwas warten. Sie setzte sich in den Yoga-Sitz und übte sich in Mudra-Gesten. Bei sich ankommen. Akzeptanz schaffen, Integration in den Alltag. Die Blaumeise trillerte ein Frühlingslied. Sie atmete tief bis in den Becken ein. Wir sind alle eins. Sie atmete langsam aus. Jeder Mensch ist gleich verletzlich. Zögerlich öffnete sie ihr Laptop. Die erste Telefonkonferenz des Tages holte sie in eine Art Leichtigkeit des Seins. In der Pause band sie ihr ungekämmtes Haar zu einem Zopf. Sie lief durch die Gärten der Wohnungsanlage vorbei an den zartrosa Knospen der duftenden Zwergblutpflaume. Sie freute sich über das Gebrumme der Hummeln. Der Duft nahm sie mit in die Welt der Sehnsucht, der Sehnsucht nach dem Rauschen des Meeres, nach einer Spritzfahrt, nach Tayo, nach Nähe, nach den Geburtstagspartys mit Freunden, nach dem Sportclub, nach dem Lieblingsrestaurant, nach der Schreibschule.

 

Auf dem Rückweg im Supermarkt kaufte sie natürlicherweise mit Mundschutz: Zitronen, gefärbte Eier, Reismilch, Quark, frische Brötchen ein. Aus- und Eingänge des Supermarktes waren separiert. Wird es bald eine gemeinsame Perspektive geben? Wann wird Tayo zurückkommen? Mit der Balkonminze bereitete sich Selma einen Frühlingsquark zu, strich ihn auf das frische Brötchen und trank eine heiße Zitrone. Es wird eine Zäsur, aber es wird. Krankheiten sind Chancen. Kollektive Umbrüche sind möglich. Leben ist Veränderung.

 

Selma nahm ihr Notizbuch und kritzelte ihre Gedanken auf. Sie atmete ein und aus. Sie sortierte ihre Gedanken, schickte ihre Geschichte an Frau Ibis.

Kommentar schreiben

Kommentare: 3
  • #1

    Veronika Valder (Samstag, 18 April 2020 07:25)

    Hallo liebe Hannah,
    Ich weiß nicht, ob wir uns schon mal begegnet sind. Doch deine Geschichte berührt mich sehr. Danke dafür.

  • #2

    Hannah (Montag, 20 April 2020 15:38)

    Hallo liebe Veronika,
    vielen Dank für deine ermutigende Rückmeldung. Vielen Dank dir. Viele liebe Grüße
    Hannah

  • #3

    Rosemarie (Samstag, 25 April 2020 18:13)

    Liebe Hannah,
    beim Lesen sah ich die überängstliche Selma vor mir...Welche Wucht und Kraft in Deinem Text steckt. "Sie beruhigte sich mit dem Sonnengruß", welch' meisterliche Disziplin! Klasse!
    Danke Dir.
    Liebe Grüße Rosi