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Erinnerungen - Carmen Tanson

Vieles geschieht. Manches berührt uns weniger, anderes mehr. Berührt ein Ereignis uns, prägt es sich tief in unser Gedächtnis ein. Wir erinnern uns an viele, scheinbar bedeutungslose Details, welche damals, vor langer Zeit, das Erlebte begleiteten. Und die Erinnerung an eines dieser unzähligen Details kann uns jederzeit wieder zurückführen zu einem ganz bestimmten Augenblick in unserem Leben.

 

Es war ein sonniger, warmer Frühsommertag vor 50 Jahren. Sedna wohnte seit einiger Zeit bei uns da wir beide uns zusammen aufs Abitur vorbereiten wollten. Es war schön täglich mit Sedna zusammen zu sein. Am schönsten waren die langen Stunden vor dem Schlafengehen, wenn wir auf dem Rande der Badewanne saßen und unserer Phantasie und unseren Gedanken freien Lauf liessen. Wir hatten vieles vor, viele Wünsche, Ahnungen und Vorstellungen...Es wurde schnell spät und schweren Herzens krochen wir gegen Mitternacht unter die Decke.

 

Die Sonntage fühlen sich immer anders an als die Wochentage. Das war damals auch schon so. In den frühen Morgenstunden hatten wir der Sonntagsmesse in der Klosterkapelle beigewohnt. Ich hatte es wie immer versäumt den Worten und Handlungen des Priesters meine Aufmerksamkeit zu schenken. Ich studierte die schönen Wandmalereien der Kapelle. Sie waren ausdrucksstark und farblich sehr schön. Der Maler war ein Bauernjunge aus dem Nachbardorf gewesen. Nach seinem Tod vor langer Zeit begannen seine Werke die Aufmerksamkeit der Fachwelt zu erregen. Ich bewunderte ihn. Seine Selbstporträts zeigten einen schönen Mann mit scharf gezeichneten Zügen.

 

Zuhause drückte meine Mutter mir ihre Geldbörse in die Hand. Aussen war sie aus schwarzem Leder, innen war sie grün, meine Lieblingsfarbe. Sedna und ich fuhren mit dem Auto meiner Eltern ins Dorf. Ich fuhr sehr gerne Auto, seit 6 Monaten war ich im Besitz eines Führerscheins. Wir parkten am Strassenrand, gegenüber der Konditorei. Wir kaufen einen noch lauwarmen Kuchen. Die Ladenbesitzerin, eine außergewöhnliche grosse und schlanke Frau, wechselte einige freundliche Worte mit uns. Wir gingen zum Nachbarhaus, ein Lebensmittelgeschäft welches auch eine Abteilung mit Kleidern, Unterwäsche und Nähzeug hatte. Ich kannte die Besitzer gut. Der ältere Bruder war unverheiratet, auch die Schwester war ledig. Sie war in einem Konzentrationslager gefoltert worden und hatte eine vernarbte und verkrueppelte Hand. Man erzählte sie habe versucht sich das Leben zu nehmen.

 

Der jüngere Bruder hieß Orbe. Er war verheiratet und hatte eine erwachsene Tochter, deutlich älter als Sedna und ich. Er war ein netter, offener Mann. Ich mochte Orbe gern. Wir kauften Milch und Käse und als ich zahlte trat Orbe durch die kleine Seitentür, welche zu seiner Wohnung führte, ins Geschäft. Als er uns sah, kam er zu uns und sein Gesichtsausdruck deute an dass etwas vorgefallen war. Er nahm meinen Arm und sagte : „Hast du schon gehört ? Os Tselmag ist tot, er hat sich gestern Abend im Weinberg erhängt, im alten, halbverfallenen Rundbau, der als Geräteschuppen dient“.

 

Er sah mich an und ich spürte seine Trauer und den Impakt dieser Nachricht. Ich sah den verfallenen Turm im Abendlicht vor mir, das Efeu welches das Gemäuer umrankte.......

 

Ich spürte dass Orbe mir seine Gefühle unverfälscht zeigte, wie man es einer erwachsenen Person gegenüber tut. In diesem Augenblick fühlte ich mich zum ersten Mal nicht als die heranwachsende Tochter der Eheleute Nemraq sondern als gleichwertigen Gesprächspartner.

Kunden traten ein, wir fuhren nach Hause und ueberbrachten die Nachricht.

 

Der Freitod von Os Tselmag beschäftigte mich. Er war ein freundlicher Mann gewesen, welcher immer einige Worte mit mir wechselte, wenn wir uns zufälligerweise auf der Strasse begegneten. Dies geschah oft in den Sommerferien wenn ich mit dem Fahrrad für meine Mutter Besorgungen machte. Er wohnte neben einem kleinen Lebensmittelgeschäft. Dort auf einem schmalen, gepflasterten Platz stand ein Fahrradstaender und eine Bank. Er war feingliedrig und nicht besonders gross. Von meinem Vater wusste ich dass Os im Bus nach Cebrem, der täglichen Fahrt zur Arbeit, mit meinem Vater und einem Mann aus dem Nachbarort zusammensaß.

Daher wusste ich auch dass Os als junger Mann eine Frau geheiratet hatte, welche er abgöttisch liebte. Kurz nach der Eheschließung erfuhr er dass seine über alles geliebte Frau ihn tagtäglich betrug. Seine Welt zerschellte, er wurde geschieden und zog in unsere Ortschaft. Nach einigen Jahren heiratete er wieder und wurde Vater zweier Kinder. Die Welt schien wieder in Ordnung zu sein.

 

In den letzten Monaten erzählte Os während den morgendlichen Busfahrten dass er sehr darunter litt tagtäglich am Haus seiner ersten Frau vorbeizukommen. Den einwenig spöttischen Schilderungen meines Vaters war zu entnehmen dass diese Notlage nicht wirklich ernst genommen wurde. Man gab Os zu verstehen dass das alles nicht so ernst zu nehmen war. Mich beschlich das Gefühl dass Os sich vielleicht nicht den richtigen Menschen anvertraut hatte.

 

Kurze Zeit später bat Os um Aufnahme in eine psychiatrische Klinik. Einige Monate später nahm er seine Arbeit wieder auf und erzählte dass sein Klinikaufenthalt keine Verbesserung gebracht hatte. Er wurde nicht verstanden, seine Bedürfnisse wurden verkannt, mit Medikamenten ruhig gestellt wurde er in der Gesellschaft geistig gestörter Patienten sich selbst überlassen.

 

Die Gedanken an Os rufen meine Erinnerung an Niraz Schinner wach.

Niraz war ein Mitarbeiter meines Vaters. Mein Vater war der Chef, Niraz war der älteste der meinem Vater unterstellen Bankbeamten. Ich lernte Niraz kennen als ich gemeinsam mit meiner Mutter meinen Vater im Büro abholte. Er war grauhaarig, schlank und hatte eine leicht nach vorne gebeugte Haltung. Das Auffallendste war seine sanfte, freundliche Art. Wenn ich ihn im Büro antraf hatte er immer ein liebes Wort für mich.

Niraz sollte nach einer internen Reorganisation der Bank Zweigstellenleiter

der Filiale in Estresem, seinem Wohnsitz werden. Bis zu seiner Pension blieben Niraz noch einige Jahre und die Versetzung sollte ihm es ermöglichen sich beruflich zu verbessern. Aus heutiger Sicht nehme ich an dass er es nicht wagte das verlockende Angebot abzulehnen, aus Angst sich undankbar zu erweisen. Doch die unbekannte Arbeit und die Verantwortung machten ihm Angst. Die Angst wurde größer und größer.

Eines Abends statteten er und seine Frau uns am Abend einen Besuch ab. Ich kannte den Grund des Treffens nicht und bald nach der Begrüßung war es Zeit für mich zu Bett zu gehen. Ich erzählte dass ich am folgenden Tag eine Prüfung in der Schule schreiben musste und beunruhigt war. Ich war schon zu Bett gegangen als Niraz und seine Frau zu mir ins Zimmer kamen um mir eine gute Nacht zu wünschen. Sie sagten mir liebe, beruhigende Worte die meine Unsicherheit wegwischten. Ich schlief zufrieden und zuversichtlich ein.

Kurze Zeit später war Niraz tot.

 

Das Grundstück hinter seinem Haus stieß an das Ufer eines Baches, welcher

im Fruehling, nach der Schneeschmelze, Hochwasser führte. Dort hatte Niraz am Tag bevor er seine neue Arbeit antreten sollte den Tod gesucht.

 

Seinen alten Arbeitskollegen hatte er immer wieder von seinen Träumen erzählt. Unendliche Menschenmengen, Kunden welche alle darauf bestanden ihn persönlich zu sprechen, welche Wünsche hatten und Erwartungen, die er zu erfüllen unfaehig war.

 

Man hatte ihm zu erklären versucht dass das alles gar nicht so schlimm sei...

Damals erinnerte ich mich an seine liebevolle Art, sein bescheidenes Wesen und empfand eine grosse Trauer und Einsamkeit.

 

Ein Kind hat die Fähigkeit solche Erlebnisse zur Seite zu schieben um ein Kind bleiben zu können.

Irgendwo suchen sie sich trotzdem einen geschützten Platz.

 

Und eine Frage drängt sich auf: Wie groß ist unsere Einsamkeit in einer existenziellen Notlage wirklich ?

Gibt es eine Antwort?   

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Kommentare: 3
  • #1

    Veronika Valder (Freitag, 01 Mai 2020 23:22)

    Wow! Mir fehlen die Worte. Danke für diesen Blickwinkel.

  • #2

    Monika (Samstag, 02 Mai 2020 12:15)

    Welch berührende Geschichte, die nachdenklich macht...

  • #3

    Christiane (Dienstag, 05 Mai 2020 14:12)

    Atmosphärisch sehr dicht..., wie viele Bilder man während des Lesens im Kopf hat... von dem Ort und dieser Zeit würde ich gerne mehr erfahren.